Angestellte

Während die jüdischen Beamten größtenteils schon im April 1933 durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" aus ihren Arbeitsverhältnissen entlassen wurden, war die Situation für die Angestellten wesentlich komplexer. Viele nichtjüdische Arbeitgeber orientierten sich an den Bestimmungen des „Berufbeamtengesetzes" und entließen ihre jüdischen Angestellten, obwohl es keine gesetzliche Grundlage gab. Andere wiederum hielten, so lange es möglich war, an ihnen fest. Arbeitsstellen bei jüdischen Arbeitgebern waren spätestens mit der „Arisierung" des Betriebes verloren.

Bis Ende 1937 waren die meisten jüdischen Angestellten entlassen worden. In den mittleren und größeren Betrieben machten die Funktionäre der NSBO Druck auf die Arbeitgeber.1 Mit dem „Argument", die Zusammenarbeit sei den „arischen" Kollegen nicht zumutbar, agitierten sie gegen die jüdischen Mitarbeiter. Einzelhändler und Handwerker beugten sich dem „Diktat der Straße". Sie fürchteten, ins Fadenkreuz von SA-Gruppen zu geraten oder antisemitisch eingestellte Kunden zu verlieren. So blieb den meisten jüdischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen nur, eine Anstellung bei einem jüdischen Geschäftsmann zu finden. Bei zunehmender „Arisierung" schwanden die Möglichkeiten aber schnell. Mit Beginn des Jahres 1938 gab es in Göttingen und Umgebung nur noch vereinzelt jüdische Angestellte.

Handlungsspielräume wurden nur selten zugunsten der Verfolgten genutzt

Die unterschiedliche Handlungspraxis nichtjüdischer Arbeitgeber lässt sich am Beispiel eines Göttinger Geschwisterpaares verdeutlichen. Gertrud Faibuschewitz arbeitete 1933 als Verkäuferin in einem Kaufhaus der Rudolf Karstadt AG in der Groner Straße in Göttingen. Zunächst hatte der Machtwechsel am 30. Januar 1933 noch keine Konsequenzen für die junge Frau, mit über 150 RM monatlich bezog sie ein für Angestellte durchschnittliches Gehalt. Ein möglicher beruflicher Aufstieg zur Abteilungsleiterin, der aufgrund ihrer Ausbildung zur Fachverkäuferin im Textilgewerbe möglich gewesen wäre, blieb ihr nun aber verwehrt. Im Sommer 1933 war ihre Arbeitskraft dann überhaupt nicht mehr gefragt. Mit einem guten Zeugnis als Ticket in eine ungewisse Zukunft wurde Gertrud Faibuschewitz entlassen. Sofort verließ sie das Deutsche Reich und flüchtete nach Paris.2

Ihr jüngerer Bruder Alfred Faibuschewitz legte noch im Februar 1934 erfolgreich seine Abschlussprüfung als Bäckerlehrling an der Städtischen Gewerbeschule Göttingen ab. Den praktischen Teil der Ausbildung absolvierte er bei Bäckermeister Konrad Schwertfeger in der Goetheallee. Bis 1938 gab es keine offiziellen Verordnungen, die in die Ausbildung jüdischer Lehrlinge direkt eingegriffen hätten, die Industrie- und Handelskammer (IHK) legte den Ausbildungsbetrieben aber 1935 nahe, keine jüdischen Jugendlichen mehr aufzunehmen. So erhielt Alfred Faibuschewitz 1934 noch seinen Lehrbrief  vom Zentralverband Deutscher Bäckerinnungen „Germania". Konrad Schwertfeger beschäftigte den Nachwuchsbäcker noch für zwei Jahre als Gesellen. Nach einer kurzen Praktikantenzeit in Kassel kehrte Alfred Faibuschewitz 1936 in seinen Ausbildungsbetrieb zurück. Erst ein gutes Jahr später stellte Schwertfeger ihm ein Zeugnis aus. Dem Schreiben ist deutlich anzumerken, wie ungern er seinen Gesellen freistellen wollte. Der Druck aus der Innung, den jüdischen Angestellten zu entlassen, war aber zu groß geworden.3

Das Bankhaus Frank bildete bis zur Schließung jüdische Jugendliche aus

Zwei Betriebe in Göttingen beschäftigten gleich mehrere jüdische Auszubildende und Angestellte, die keine andere Stelle mehr finden konnten. Max Simon, jüdischer Mitinhaber des Bankhauses Simon Frank OHG, konnte die Geschäftstätigkeit bis Sommer 1938 aufrechterhalten.4 Ein Grund dafür war, dass die Bank ihren Sitz im Haus Theaterstraße 25 hatte, das zu dieser Zeit noch dem jüdischen Kaufmann Alfred Rosenbaum aus Rosdorf gehörte. Damit war Max Simon, zumindest vorübergehend, vor einer Kündigung des Mietverhältnisses sicher. Bis zur Schließung des Geldhauses waren mehrere jüdische Auszubildende und Angestellte in dem Unternehmen tätig, u.a. anderem der Sohn des Vermieters, Kurt Rosenbaum. Schon seit 1925 arbeitete Anneliese Rothstein im Unternehmen. Sie hatte in Göttingen das Lyzeum besucht, danach ihre Lehrzeit im Bankhaus Frank angetreten. Zu Beginn der NS-Zeit hatte sie es bis zur Kontokorrent-Buchhalterin gebracht und war damit eine geschäftliche Vertrauensperson des Bankbesitzers geworden. Die politischen Verhältnisse im Reich verhinderten aber, dass Anneliese Rothstein sich beruflich weiter entwickeln konnte. Dazu kamen permanente Verunglimpfungen durch SA- und HJ-Mitglieder. Am 20. September 1935 bat sie Max Simon daher um die Ausstellung eines Arbeitszeugnisses. Frau Rothstein hatte sich entschlossen, nach Südafrika auszuwandern. Mitte Januar 1936 verließ sie Göttingen, mit dem Schiff erreichte sie zwei Wochen später die südafrikanische Hafenstadt Durban. Anneliese Rothstein ließ sich schließlich in Johannesburg nieder.

Den Anfeindungen des Lehrers ausgesetzt

Heinz Pohly aus Göttingen kam erst zum Bankhaus Frank, als Frau Rothstein bereits in Johannesburg lebte. Als Schüler der Oberrealschule (heute Felix-Klein-Gymnasium) war er den Anfeindungen seines Klassenlehrers und den Übergriffen einiger Mitschüler ausgesetzt. Auf der Schule zu bleiben, erschien unmöglich. So begann er noch 1936 eine Lehre zum Bankkaufmann, die er aber nicht zum Abschuss bringen konnte. Noch vor Ablauf der Lehrzeit wurde das Bankhaus Simon Frank „arisiert". Heinz Pohly besaß nun weder einen Schul- noch einen Berufsabschluss. In Berlin lernte er daher in einer Umschichtungsstelle der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) zum Schlosser um. Mit seinen Eltern verließ er Deutschland im Frühjahr 1939. Familie Pohly wanderte über Frankreich nach Argentinien aus, wo sie später in Buenos Aires ein neues Zuhause fand.

Trotz guter Qualifikation keine Übernahme durch nichtjüdische Geschäftsinhaber

Auch Richard Gräfenberg war bemüht, jüdischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine – zumindest vorübergehende – Perspektive zu geben. Sein Textilkaufhaus lag in bester Lage in der Innenstadt Göttingens. Da er in sogenannter Mischehe lebte, also mit einer Nichtjüdin verheiratet war, konnte er seinen Betrieb länger als andere jüdische Kaufleute erhalten. Seit 1926 arbeitete Max Rothenberg aus Goslar im Kaufhaus Louis Gräfenberg. Bis zum Beginn der NS-Zeit hatte er es zum Chef-Einkäufer des Modehauses gebracht. Auch vertrat er Richard Gräfenberg bei dessen Geschäftsreisen als Betriebsleiter und hatte Prokura. Als der jüdische Inhaber 1936 gezwungen wurde, seine Firma zu verkaufen, wollte der nichtjüdische Nachfolger Max Rothenberg als geschätzten Verkäufer eigentlich weiter beschäftigen.

Diesen Plan durchkreuzte aber die DAF, die eine Entlassung aller jüdischen Beschäftigten als Voraussetzung des Firmenerwerbs durchsetzte. Für Max Rothenberg war die Freistellung nicht der erste Rückschlag. Der hervorragende Geräteturner des TSV von 1801 Göttingen hatte vor 1933 Chancen für Einsätze in der deutschen Turner-Nationalstaffel. Mit dem NS-Machtantritt beschloss die Deutsche Turnerschaft (DT), dass Juden keine Mitglieder in deutschen Turnvereinen mehr sein konnten. Dem Rauswurf aus dem Verband kam Max Rothenberg mit einem stilvollen freiwilligen Austritt zuvor. Nach der beruflichen Entlassung arbeitete der Familienvater noch mehrere Jahre in verschiedenen Orten in Norddeutschland, bevor er mit seiner Familie im Mai 1939 mit Quotenvisa in die USA emigrierte.5

Jüdische Angestellte verließen nach der Geschäftsaufgabe ihrer Arbeitgeber meist das Deutsche Reich

In der Firma Gräfenberg arbeiteten 1933 etwa 60 Angestellte.6 Ein größerer Teil dürfte jüdischer Herkunft gewesen sein. Einer der Auszubildenden war Siegfried Goldschmidt aus Peine. Er hatte seine Lehre zum kaufmännischen Angestellten 1931 in der Firma angetreten, 1934 legte er erfolgreich die Abschlussprüfung ab. Er arbeitete anschließend weiter für Gräfenbergs und spezialisierte sich als Ein- und Verkäufer für Teppich- und Gardinenwaren. Als es zum Verkauf des Geschäfts kam, verließ Siegfried Goldschmidt Göttingen, wohl ahnend, dass eine Weiterbeschäftigung unter dem nichtjüdischen Nachfolger unrealistisch war. Für kurze Zeit nahm er eine Beschäftigung als Verkäufer in der Nähe Bremens an, dann verließ er 1936 Deutschland für immer. Über England wanderte auch er in die USA aus. In Göttingen und Umgebung gab es nur wenige Firmen jüdischer Inhaber in der Größenordnung des Kaufhauses Gräfenberg. Das Schicksal ihrer jüdischen Angestellten ist bislang weitgehend unbekannt. In den meisten Fällen arbeiteten die Ausgebildeten, für die ihre Lehr- und Gesellenzeit nur eine Durchgangsstation zur Selbstständigkeit sein sollte, in Geschäften und Unternehmen, die sich in Familienbesitz befanden. Auf diese Weise waren für einige Zeit das eigene Einkommen und die Existenz des Betriebs gewährleistet. Aber auch die Nachkommen der jüdischen Kaufleute wählten, spätestens ab 1937, die Emigration als einzigen Ausweg vor dem NS-Terror und der Perspektivlosigkeit.


Fußnoten

  1. NSBO: Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation. Nach Auflösung der Organisation 1935 übernahm die Deutsche Arbeitsfront (DAF) ihre Rolle in den Betrieben
  2. Angaben aus der Entschädigungsakte von Gertrud Durand, geb. Faibuschewitz, HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 112463
  3. Angaben aus der Entschädigungsakte von Alfred Faibuschewitz, HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 102197
  4. Zum Bankhaus Frank vgl. Bruns-Wüstefeld, Geschäfte, S. 246/247
  5. Angaben zu Max Rothenberg aus der Entschädigungsakte, NLA-HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 116218. Siehe auch die biografischen Angaben unter "Fallbeispiele"
  6. Bruns-Wüstefeld macht für 1932 noch 61 Beschäftigte der Firma aus. Vgl. Bruns-Wüstefeld, Geschäfte, S. 269

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